Gedanken zum Wert Distanz

„Ich freue mich so, dass es Sie gibt. Sie haben einen tollen Beruf“, sagt der alte Herr, als er mich in sein Appartement bittet. In Kürze wird er 80 Jahre alt, und zu diesem Anlass wollen seine Kinder ihm das persönlichste Geschenk der Welt machen: sein Lebensbuch. Er serviert Tee und Kuchen, erwartet – ganz ehemalige Führungskraft – einen strukturierten Fragenkatalog, bietet berufliche Lebensläufe an und lässt sich schließlich ganz entspannt darauf ein, einfach erzählend zu erinnern, erinnernd zu erzählen. Mein Aufnahmegerät auf dem Tisch ist schnell vergessen. Der Tee wird kalt.

In jedem Alter überblicken wir eine gewisse Lebensspanne, in jedem Alter sind wir reich an Erfahrungen, die unsere Welt ausmachen. Wir haben eine besondere Liebesgeschichte, wir haben eine Krankheit bewältigt, wir haben Krieg und Frieden erlebt, Reisen, Abenteuer, die Geburt von Kindern oder den Tod naher Menschen. Etwas lastet noch auf uns, etwas schmerzt. Manche finden durch das Erzählen wieder zu sich. Jedes Leben zeugt von unserer einzigartigen Art und Weise, mit dem, was uns begegnet, umzugehen. Die Erinnerung in uns ist in Wahrheit ein Geheimnis, ein Geheimnis, das sich im intensiven Gespräch zwischen ganz Fremden plötzlich offenbart: Nichts ist verloren. Alles ist in uns bewahrt. Wir beginnen an einem beliebigen Punkt uns zu erinnern, und plötzlich steigen ganze Szenarien vor unserem inneren Auge auf. Wir hören wieder Rudi Schuricke „Schön ist die Zeit der jungen Liebe“ singen, riechen den erdigen Geruch der Steckrüben vom Feld, sehen uns beim Bier ausgelassen Studentenlieder singen. „Das liegt auch an Ihnen, Ihrer Art zuzuhören. Da stimmt einfach alles“, sagt er anerkennend.

Im Gleichgewicht zwischen respektvoller Distanz und intensivem Interesse für den anderen entwickelt sich unser Gespräch. Nach ein oder zwei Stunden zeigt er noch keinerlei Anzeichen von Müdigkeit. Ich bin Zuhörerin, mit ganzem Herzen. Ich höre bereits in der Fülle des Erzählten einen persönlichen Ton heraus, entdecke ein wiederkehrendes Motiv, das ganz einzigartig ist und mir etwas von der Art meines Gegenübers zeigt, mit dem Leben und den Schicksalsschlägen, die es uns zumutet, umzugehen. „Wir haben Ihnen zu danken“, sagt er abschließend, als ich mich bedanke. Ich durfte an der Fülle seines langen Lebens teilhaben, Anteil nehmen, eine ganz andere Zeit und Sicht auf die Welt kennen lernen, fühle mich an seinem Beispiel ermutigt. „Manches war schrecklich, aber ich habe es überstanden“, sieht er im Rückblick und lacht. Wir sind vielleicht für hundert Jahre Zeugen unserer Zeit, verwandeln Geschichte in gelebtes Leben. Sein Lebensporträt, das ich zu Hause schreiben werde, wird nicht nur seine Erfahrung bewahren, sondern seinen Kindern und Enkeln zeigen, wie entschlossen er durch Erfolge und Umbrüche ging und was ihm letztlich am wichtigsten war: für andere da sein.

„Ich entdeckte, je mehr ich zurückging, daß die Dinge besser gewesen waren, ob sie nun passiert sind oder nicht.“
(Mark Twain)