Gedanken zum Wert Eigennutz

„Das ist mein Herzensprojekt. Ich möchte das erst mal nur für mich haben, fast niemand weiß davon.“ Schon seit längerer Zeit hat sie die Idee bewegt, ihre Geschichte zu erzählen, ein Buch darüber zu verfassen. Sie hat damit begonnen, Aufzeichnungen zu machen, aber wie soll sie dem Erlebten die richtige Form geben, wie nach der Arbeit noch den Elan aufbringen, sich mit der eigenen Vergangenheit zu befassen, sie schreibend nochmals zu erleben und von sich abzulösen?

Was sie zu erzählen hat, fällt schwer, in Worte zu fassen. Das Leid ihrer Kindheit steht ihr immer wieder vor Augen: Gewalt, Drangsal, Strafen, Übergriffe. Lange hatte sie das Erlebte vor sich und der Welt verborgen, Schmerz und Erniedrigung ließen sie bitter und kühl werden, etwas in ihr war wie erstarrt, lähmte sie. Jegliches zarte Gefühl wurde im Keim erstickt. Wenn sie daran rührte, blickte sie auf Ohnmacht, Angst und Verzweiflung. Sie verschloss sich immer mehr, versteinerte. Sich alles von der Seele zu schreiben wurde zur Sisyphusaufgabe, je mehr sie sich anstrengte, umso weiter entfernt schien das Ziel.

„Ich möchte Ihnen einmal alles erzählen. Das dauert nur ein, zwei Tage, und anschließend schreiben Sie für mich. Dazu bin ich jetzt fest entschlossen. Sie können sich gar nicht vorstellen, welchen besonderen Wert das für mich hat“, erklärt sie mir. „Und vielleicht verstehen meine Kinder irgendwann, wenn sie das Buch gelesen haben, warum ich eine strenge und harte Mutter war, und können mir verzeihen. Sie haben den Kontakt abgebrochen, meine Enkel kenne ich gar nicht.“

Kurz darauf holt sie mich am Flughafen ab. Im Hotelzimmer erwartet mich ein Strauß Blumen mit einer Dankeskarte von ihr. Wir verbringen zwei Tage miteinander, reden in Ruhe, vorsichtig tasten wir uns an das heran, was erzählt und gehört werden will. Wir gehen spazieren, essen gut, nehmen uns die Zeit, die sie braucht, bis sie das Gefühl hat: Jetzt ist es rund. Alles ist gesagt. Ich bin erleichtert. Es geht mir gut. Sie hat sich überwunden, sich geöffnet und gezeigt, Vergangenes ein Stück weit hinter sich gelassen.

Wieder zu Hause angekommen, schreibe ich ihr Buch aus meiner Resonanz über unsere Begegnung in ihrer Umgebung, versetze mich wieder in ihre Welt, überschaue ihren Weg und fasse die Motive ihres Lebens in annehmbare, wertschätzende und schöne Worte. Ich lebe für eine geraume Weile mit ihrer Stimme und trage ihren Schmerz mit, würdige ihre Geschichte.

„Es liegt eine große Kraft darin, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass man erkannt und gehört wird, darin die einzigartige Geschichte für sich zu beanspruchen … Und es liegt eine große Anmut und Gnade darin, andere erkennen und hören zu wollen. Das ist es, was ,Werden‘ für mich bedeutet.“ (Michelle Obama)