Gedanken zum Wert Aufklärung

„Sie sind lebensbedrohlich erkrankt. Sie hätten daran sterben können”, sagt der Professor meiner Mutter fünf Tage, nachdem er sie kurz hintereinander zum zweiten Mal notoperiert hat. Sie nickt gelassen und ich frage mich, wie viel Wahrheit sie hören möchte. Die Frau im Bett nebenan liegt im Sterben. Sie ist seit ihrer Aufnahme noch nicht aufgewacht und wird vielleicht das Bewusstsein nicht wiedererlangen. Ihre Tochter bleibt bei ihr und liest ihr tröstende Zeilen aus der Bibel vor.

„Mit 82 steckt man das nicht so leicht weg”, fährt der Professor fort, „deshalb freue ich mich, dass Sie heute von der Intensiv auf Station Baldeney verlegt werden. Bis später.” Meine Mutter freut sich verhalten und nickt geduldig. Sie ist eher daran interessiert, endlich wieder liegen zu dürfen. „Seit vier Stunden sitze ich hier im Stuhl. Wann kommen die denn? Mir tut der Rücken weh”, beklagt sie sich leise. Ich füttere sie mit frischen Himbeeren und bin glücklich, dass sie das Wochenende überlebt hat. Zwei Schläuche ragen aus ihrem Kittel, einer mündet direkt in den Hals. Jeder kleine Fortschritt zählt, selbstständig atmen, sprechen, trinken, schlucken, Arme und Beine bewegen können. Nichts ist selbstverständlich.

Von anderen abhängig – das sind wir, wenn wir ins Leben eintreten und wenn das Leben zu Ende geht. Wie geduldig und ergeben können wir sein? Was wollen wir wissen und was sollten wir wissen? Welche Wahrheiten müssen gesagt werden und von wem? Immer wieder: Liebe. Auch: Hoffnung, Aufmunterung und Glück – noch. Alles kann besser werden. Wird es wieder gut? Geschenkte Zeit. Wir brauchen sachliche Aufklärung, Erklärung. Und wir brauchen Menschen, die nicht nur auf Apparate sehen, die uns ansehen, mit uns sprechen, für uns da sind. Wir erklären unseren eigenen Willen bis zuletzt mit Worten, Gesten, Taten und verdienen dafür Respekt.

„Stell dir vor, die haben mir den Bauch aufgeschnitten. Ich hab gehört, was sie sagen. Da stehst du vielleicht erst mal neben dir.” Meine Mutter nimmt ein Schlückchen Wasser aus dem Strohhalm und ich frage mich, ob sie während der Operation ein Nahtod-Erlebnis hatte. Die Schwelle vom Leben in den Tod ist das größte Geheimnis. Was, wenn unser Ich sich seiner selbst bewusst würde, wenn es den Körper ablegte, den verbrauchten, und den Triumph der Geistes feierte? Die größte Befreiung erlebte? Das ist die letzte Aufklärung, die wir erfahren werden. Jeder für sich. Vielleicht warten die Vorausgegangenen an der Schwelle auf uns, vielleicht unser Engel oder das göttliche Wesen, das unserem Herzen nahesteht. Noch sind wir hier, können uns sehen, berühren, sprechen. Das wird dort nur innen sein.

„Bestimmt kommst du gleich in dein neues Zimmer. Soll ich dir die Haare kämmen?”, frage ich meine Mutter und sie lächelt kokett.„ Mein Schatz, du bist die Beste”, sagt sie und drückt meine Hand. Sie ist ganz warm. Sie ist wieder zurück.

„Man schließt die Augen der Toten behutsam; nicht minder behutsam muß man die Augen der Lebenden öffnen.”
(Jean Cocteau)