Gedanken zum Wert Aufrichtigkeit

Wer aufrichtig ist, öffnet sein Herz und zeigt ohne Scheu, wer er ist, was er denkt und fühlt. Er mutet sich dem anderen zu, vertraut sich ihm an. Zu viel Aufrichtigkeit ohne Empathie und Verständnis für die Situation des anderen kann verletzen. Wer ohne falsche Absichten seine eigenen Haltungen vertritt, stößt nicht immer sofort auf Gegenliebe.

Als ich im luxemburgischen Schulministerium arbeitete, nahm ich regelmäßig an Sitzungen mit der Ministerin, mit Regierungsräten, anderen Koordinatoren und Lehrerteams, die ihre Ideen für innovative Schulprojekte vorstellen wollten, teil.  Ein engagiertes Lehrerkollegium begeisterte mich so, dass ich spontan vorschlug: Warum nehmen wir das Projekt nicht auch für die Gemeinde in Esch?Der Erste Regierungsrat tuschelte gerade mit der Ministerin, als sie nervös ausrief: „Madame, jetzt haltet Ihr Euch mal da raus!”

Ich fühlte mich in meiner besten Absicht, die Sache vorwärtszubringen, missverstanden und zudem noch vor allen gerügt. Mit meiner unbedachten Äußerung hatte ich mich in ihren Kompetenz- und Entscheidungsbereich eingemischt. Nach der Sitzung bat ich sie um ein Gespräch. Ich erklärte ihr, dass ich im deutschen Schulsystem ganz anders erzogen worden bin, als ich es in meinen Unterrichtshospitationen in Luxemburg erlebt hatte. Wir lernten schon lange nichts mehr auswendig, wir waren nicht so autoritäts- und hierarchiebezogen wie das an Frankreich orientierte System es Schülern und Lehrern als Rahmen vorgab, wir wurden zum kritischen Denken ermuntert und sollten möglichst aktiv, kreativ und eigenständig werden. Und im Grunde genommen war es das, was die Ministerin sich für ihre innovativen Schulprojekte und den neuen Lehrplan wünschte.

Wir redeten lange und aufrichtig miteinander. Keine entschuldigte sich, keine machte der anderen Vorhaltungen. Wir erklärten uns unsere Sichtweisen, Erfahrungen und Gedanken aus unseren Kulturen heraus, Kulturen, die so nah beieinander liegen und doch so unterschiedlich sind. Es war ein schönes Gespräch. Seitdem verabschiedete sie mich immer mit Wangenküsschen und fragte in Sitzungen auch mal: Madame Jacobsen, was meint Ihr denn dazu?” Das alles liegt bald zehn Jahre zurück und ich erinnere mich gerne daran. Inzwischen hat das Leben mich aus Luxemburg fortgeführt. Sie ist nicht mehr Ministerin, sondern EU-Politikerin. Den Kontakt halten wir immer noch.

Aufrichtigkeit ist höchstwahrscheinlich die verwegenste Form der Tapferkeit.
(William Somerset Maugham)