Gedanken zum Wert Beharrlichkeit

„Lass mich in Ruhe“, flüstert sie. „Nein, ich lass dich nicht in Ruhe. Du musst etwas essen. Komm, nimm wenigstens ein Löffelchen Apfelmus. Das schmeckt dir bestimmt.“ Ich setze mich zu ihr auf die Bettkante und halte ihr den Löffel direkt vor den Mund. Sie presst die Lippen zusammen und wendet den Kopf ab. „Sollen wir vielleicht erst die Zähne putzen?“, frage ich. Keine Antwort.

Sie sieht aus dem Fenster, ihre Hände ruhen wie welke Blätter in ihrem Schoß. Ich greife nach einer Hand und drücke sie. Sie erwidert meinen Händedruck. Kraftvoll und warm. Sie darf sich jetzt nicht aufgeben. Es kann noch alles gut werden. Schwach, zart, dünn geworden liegt sie vor mir. Ein Kissen stützt den Kopf, eines liegt unter den Beinen. In den Arm läuft eine Infusion. Sie trinkt zu wenig, kann schlecht schlucken. Ich lasse nicht zu, dass sie vor meinen Augen verwelkt, schwindet, verschwindet. Es ist doch alles gut verlaufen, alle Wunden sind verheilt. Wenn diese Schwäche nicht wäre. Die große Müdigkeit. Lebensmüdigkeit.

Ich erzähle ihr von meinem Tag, frage sie um Rat. Sie ist noch gefragt. Sie bedeutet mir viel. Ich liebe sie. Ironisch zieht sie die Augenbrauen hoch und antwortet mit fester Stimme, eine Reminiszenz an alte Stärke, als sie sich im Klassenzimmer mühelos Gehör verschaffte. 45 waren wir damals. Ihre erwachsenen Schüler schreiben ihr immer noch jedes Jahr zum Geburtstag. Ob sie den nächsten noch erleben wird? „Es wird alles wieder besser, probier mal die leckeren Himbeeren“, nutze ich den günstigen Moment und stecke ihr eine in den Mund. Sie leckt sich die Lippen. Sie schmecken ihr. Ihre Hand greift in die Schale, die Finger bleiben darin liegen. Ob sie sie selbst zum Mund führen kann, beobachte ich beiläufig. „Viele Grüße vom Obsthändler, alle fragen nach dir“, plaudere ich munter und lächle ermutigend. Sie sieht mich lange an. Sie weiß, dass sie nicht dorthin zurückkehren wird. Stufen – ein unüberwindbares Hindernis. Ich habe einen anderen Platz für sie gefunden.

„Wenn du in dein kleines Apartement eingezogen bist, dann gehen wir zusammen Eis essen“, schlage ich vor. „Cappucino und Pflaume-Zimt“, sagt sie plötzlich und lächelt. „Ja. Das bringe ich dir morgen mit.“ Ich streichle ihr übers verschwitzte Haar. Sie schließt die Augen. „Du hast so viel geschafft, drei lange Operationen in den letzten sechs Monaten, nächste Woche beginnt die Vorbereitung auf die Reha, dann suchen wir für dich eine schöne Reha-Klinik und danach kannst du umziehen. Das wird dir gefallen.“ Ich schiebe ihr noch eine Himbeere in den Mund. Sie kaut langsam. „Lecker?“ Sie nickt. „Du darfst alles essen, was dir schmeckt, sogar Schokoladenpudding, hast du es gut!“, schwärme ich. Es liegt noch ein langer Weg vor ihr. Ich werde sie weiterhin jeden Tag besuchen, sie füttern, ihr zu trinken anreichen, sie kämmen und eincremen. Vor allem werde ich sie ermutigen, erinnern und bestärken. Ich werde sie für jeden kleinen Fortschritt loben und ihr Zuversicht geben. Ich werde es ihr schön machen. Bis zuletzt. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Sie hebt zum Abschied leicht die Hand. Wir schaffen es.

„Man muß jedem Hindernis Geduld, Beharrlichkeit und eine sanfte Stimme entgegenstellen.“
(Thomas Jefferson)