Gedanken zum Wert Dominanz

Ich wache auf, und der erste Blick gilt meinem Handy, das neben meinem Bett liegt, seit meine Mutter im Pflegeheim wohnt: 8.35 Uhr, Sonntag, 4. September, eine neue Nachricht, 25 E-Mails, 30 Neuigkeiten auf Facebook. Im Haus ist es noch still. Ich stehe auf, öffne das Fenster, die Luft riecht nach Regen. Ein heißer Milchcafé weckt die Lebensgeister und stärkt meinen Entschluss, mich heute dem digitalen Stress für eine Weile zu entziehen, selbst zu bestimmen, was ich wann tue.

Ich setze mich an den Schreibtisch für Handgeschriebenes und lese ein schmales Buch, drei Vorträge hintereinander. Ich konzentriere mich auf den Text. Ich zentriere mich, folge fremden Gedanken, mache sie mir zu eigen und lasse mich innerlich anrühren. Ideenräume öffnen sich, großartige Welten breiten sich vor meinem inneren Auge aus. Wann habe ich mir das zuletzt gegönnt? Warum muss ich permanent dem Zugzwang der neusten Nachrichten folgen, gleichzeitig ein Video auf dem Handy hören und meine Mails am Laptop beantworten? Was entgeht mir, wenn ich später in der virtuellen Welt vorbeischaue? Die Wolken verdüstern sich, in der Ferne leises Donnergrollen, ein Blitz zuckt über den Himmel, durch die Zweige der großen Bäume vor meinem Fenster streift der Wind. Gleich wird es regnen. Da, noch ein Blitz, gleißend, der gewaltige Donnerhall folgt sofort, Regen rauscht erfrischend in Sturzbächen herab. Ich schließe das Fenster. Wie schön die Welt ist.

Ein guter Tag zum Lesen und Schreiben, ein Tag für mein Klavier und einen Besuch bei meiner Mutter. Ein guter Tag, um die Dinge wieder langsamer und nacheinander anzugehen. Ich bin nervös und fahrig geworden, fühlte mich gestresst, müde und erschöpft. Aufgaben erfüllen, mehr leisten, alles im Blick behalten und auf vielen Ebenen gleichzeitig präsent sein. Wozu letztlich? Ich sehne mich nach Ruhe. Was hilft? Verlangsamung, Vertiefung, Versenkung. Natur und Kunst. Literatur, Musik, Menschen, Zeit. Das gute Gespräch. Aufmerksamkeit, Zuhören.

Die digitale Welt ist Fluch und Segen zugleich. Sie bringt uns miteinander in Kontakt, füttert uns mit Informationen, bestimmt unser Arbeitsleben. Im weltweiten Netz stehen wir in Verbindung, finden das Wissen der Welt, teilen Erfahrungen und Erlebnisse. Wir alle wollen etwas, vorwärts, weiter. Die digitale Welt zeigt uns, dass wir alle miteinander in irgendeiner Weise zu tun haben, wir Menschen teilen für höchstens 100 Jahre Erden-Raum und Zeit, Atemluft, Wasser, Nahrung, Ressourcen, Natur und Kultur miteinander, was einer tut, wirkt sich in irgendeiner Form auf das Ganze aus. Wir Weltbürger verbinden uns virtuell. Im besten Sinne: ein Abbild der Ideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wenn es gelingt.

Die digitale Welt dominiert uns, erschöpft uns, stresst und überfordert uns. Die Fülle an Informationen und Reizen verlangt uns alles ab: Akzentuierung, Unterscheidungsfähigkeit, inneres Standing. Nein-Sagen und Fokussierung werden zur Qualität, Zeiten von Rückzug unerlässlich. Ich antworte auf die Nachricht meiner Freundin, koche mir noch einen Café und setze mich auf der Suche nach dem passenden Komponisten, dem Stück, was ich üben möchte, ans Klavier. Es wird Zeit für ein neues Programm meiner Lesung mit Musik zum Thema Herbst. Regen fällt unablässig in sanften Schauern. Ich glaube, mir kommt da eine Idee. Largo in e-Moll, piano, espressivo.

„Der einzige Tyrann, den ich in dieser Welt anerkenne, ist die leise innere Stimme.“ (Mahatma Gandhi)