Gedanken zum Wert Ansehnlichkeit

1926 war meine Großmutter eine junge und sehr schöne Frau. Ihre elegante Gestalt und die von blondem Haar umrahmten Gesichtszüge – hellblaue Augen, schlanke Nase und wohl geformte Lippen – verliehen ihr etwas Edles. Vielleicht ein Erbe ihrer adeligen Vorfahren, die als Hugenotten von Frankreich nach Holland flüchten mussten.

Sie wurde 1901 in der Nähe von Köln geboren, wo ihre Eltern ein kleines Hotel führten, in dem sie mitarbeitete. In den Goldenen Zwanzigern lernte sie ihren Mann kennen, der als junger Soldat aus dem Ersten Weltkrieg und der anschließenden Gefangenschaft mit einem Magenleiden heimgekehrt war. Er kam gelegentlich ins Hotel, um dort eine warme Suppe zu sich zu nehmen, und meine Großmutter gab ihm heimlich immer zu viel Wechselgeld heraus, um ihn bald wiederzusehen. Sie war eine warmherzige, hilfsbereite und großzügige Frau, ganz anders als ihre Mutter, eine kühle Geschäftsfrau, die sie später um ihr Erbe betrog.

Man trug Bubikopf oder weiche Wellen, bestickte Kleider, exotische Stoffe, lange Perlenketten und Hut. Man hielt etwas auf sich, man machte sich hübsch für die Augen anderer.

Als ich geboren wurde, war meine Großmutter 62, als ich sieben Jahre alt war, zog sie zu uns. Von ihrer kleinen Witwenrente lebte sie bescheiden und zufrieden. Sie ging jede Woche zum Friseur, um sich die Haare waschen, aufdrehen und legen zu lassen, und sonntags im guten Kostüm in die Kirche. Beim Kochen und Backen trug sie ihre Lieblingsschürze und wenn ich mit meinen Eltern, die beide Lehrer waren, aus der Schule kam, war das Essen schon fertig. Meine Großmutter hatte zwei Wohnzimmer, die ineinander übergingen. In dem einen saß sie neben der alten Standuhr am großen Tisch auf dem Sofa und stickte Bilder oder knüpfte Teppiche, während Klaus Kinski in Schwarz-Weiß den Bösewicht bei Edgar Wallace mimte. In dem anderen, dem Zimmer mit den Ziermöbeln und Sammeltässchen in der Vitrine, empfing sie manchmal Besuch bei Kaffee und Kuchen.

Sie hatte den Ersten und Zweiten Weltkrieg erlebt, war im Winter 1945 mit Mann und Kind aus ihrer Heimat geflohen, hatte meine Mutter großgezogen und ihren Mann verloren. Und sie legte immer noch Wert darauf, ansehnlich zu sein.

Vielleicht ist Ansehnlichkeit mehr als der Wunsch, für andere gut auszusehen. Vielleicht ist Ansehnlichkeit eine innere Haltung, die uns hilft, auf uns selbst zu achten und Würde zu bewahren.

„Es gibt zwei Arten des Schönen: In der einen liegt Anmut, in der anderen liegt Würde.”

(Marcus Tullius Cicero)