Gedanken zum Wert Beständigkeit

Meine Eltern waren Flüchtlinge. Zu Fuß und an der Hand ihrer Eltern liefen sie im Winter 1945 im hohen Schnee Hunderte von Kilometern um ihr Leben, sahen Trümmer, zerbombte Städte, erfrorene Leichen am Wegesrand, hörten den Fliegeralarm, die herabpfeifenden Bomben und das ferne Rollen der russischen Panzer. Mein Vater flüchtete als neunjähriger Knirps von Schlesien nach Nürnberg, meine Mutter als zwölfjähriges Mädchen von Pommern ins Ruhrgebiet und weiter ins Sauerland. Wer Verwandte zufällig wiedertraf, teilte sich den Raum und das Essen mit ihnen. Meine Mutter liebte es, sich in der Scheune der wohlhabenden Bauern zum Schlafen eine gemütliche Kuhle im Strohsack zu formen, und freute sich, wenn sie etwas von dem Essen abbekam, das eigentlich den Schweinen vorbehalten war. Nach dem Krieg kam der Hunger. Als die Zeiten langsam besser wurden und ihre Eltern Arbeit erhielten, gingen sie wieder zur Schule und später an die Universität. Beide träumten davon, ein Semester in Frankreich zu studieren, die Eltern sparten sich die Reise nach Grenoble vom Mund ab. Dort begegneten sie sich.

Auf einem kleinen Zettel lese ich die eng beschriebenen Zeilen, die mein Vater mit 21 Jahren am 17.6.1956 notiert hat: „Ich bin sehr glücklich, daß ich die Ros gefunden habe. Ich weiß jetzt auch, warum ich sie so lieb habe: weil sie so ganz natürlich ist, ganz ungekünstelt und unverfälscht. Darum passen wir auch so gut zusammen … Eines muß ich mir merken: die Rosi ist ein sehr tiefer, echter Charakter und das alberne Getue an mir liebt sie nicht. So, wenn ich z.B. angeberisch tue. Warum haben wir uns eigentlich manchmal gezankt? Weil ich die Ros oft verletzt habe. Durch mein übertreibendes Wesen! Weil ich vergessen hatte, welchen Schatz ich in ihr gefunden habe! Die Rosi ist sehr leicht verletzbar, ich darf nie grob zu ihr sein. Sie liebt mich von ganzer Seele, ganzem Herzen, wie mich noch kein Mensch geliebt hat. Sie baut ihr ganzes Glück und Vertrauen auf mich! …“

Sie blieben sich treu, hielten aneinander fest, standen sich bei und halfen sich bei Krankheit und durch schwere Zeiten. Sie teilten ihr Glück und ihre Liebe miteinander und wurden sich immer vertrauter. Vor 15 Jahren starb mein Vater nur 65-jährig plötzlich im Schlaf. Warum ahnten wir nicht, wie wenig Zeit wir miteinander haben sollten? Wären wir dann vorsichtiger, liebevoller zueinander gewesen? Oder waren wir einfach nur echt, unverfälscht und herzlich? Meine Mutter wird kurz vor Weihnachten 82 Jahre alt. In ihrem neuen Zuhause im Pflegeheim hat sie alle Fotos ihrer Lieben aufgestellt. Sie lächelt ihn an, sie redet mit ihm und manchmal kommen ihr die Tränen, wenn sie seine Nähe vermisst. Sie liebt ihn immer noch.

„Liebe ist die beständigste Macht der Welt.“(Martin Luther King)