Gedanken zum Wert Ehrfurcht

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„Sie müssen ein glücklicher Mensch sein. Sie haben einen Doktortitel.“ Er lehnt sich zurück, ich denke, dass er keine Ahnung hat. „Wissen Sie“, seine Stimme klingt erstaunlich hoch für einen so durchtrainierten Mann, „das ist mein größter Traum: promovieren, wenn das möglich ist.“ „Natürlich werden Sie promovieren – und danach werden sie habilitiert. Wenn Sie nicht Professor werden, wer denn sonst?“ Ermutigend nicke ich ihm zu. Er ist Asylbewerber aus Afghanistan. Sein Deutsch ganz gut, aber noch nicht sehr gut. Jung noch, Mitte Dreißig, aber fast ganz grauhaarig. Er muss viel mitgemacht haben.

Wir überarbeiten seinen Lebenslauf. „Hier unten stehen sieben Titel. Was bedeutet das?“, frage ich interessiert und lese Diskrete Mathematik, Lineare Algebra. „Publikationen“, antwortet er bescheiden. „Das ist ja großartig! Toll, das müssen wir als solche auch sichtbar machen und mit ihrem Namen und dem Verlag kennzeichnen.“ Ich verstehe von Mathematik so viel wie er von Harmonielehre. Einig sind wir uns über die Begeisterung für eine gewisse Verwandtschaft von mathematischen Zahlenverhältnissen und musikalischem Wohlklang. Er schwärmt für Bach, Mozart, Beethoven! Wenn er von „diesem klitzekleinen mathematischen Problem“ oder „dieser hübschen Formel“ spricht, meint er es tatsächlich ernst. „Wissen Sie…“, setzt er erneut an, „es sind nicht nur sieben.“ „Wie viele?“ „Ehrlich gesagt: 54.“ Als müsste er sich dafür entschuldigen. „Sie haben 54 Bücher über Mathematik geschrieben?“ Ich bin fassungslos. „Ja, in meiner Muttersprache. Morgen bringe ich eins mit“, schlägt er vor.

Noch nie hatte ich so einen außergewöhnlich hochbegabten Klienten, der dazu noch bescheiden und einfach normal geblieben ist: vier Bachelor und einen Master in unterschiedlichen Naturwissenschaften; den deutschen Master macht er gerade nur, um seine Fachsprache auf Deutsch zu lernen. Unterrichtserfahrung in der Schule und an der Universität. Das Beste: Er liebt sein Fach. Wenn er über Primzahlen spricht, leuchten seine Augen. Ich nehme ihm sofort ab, dass da noch Forschungsbedarf besteht und er „vielleicht eine kleine Idee hat“.

Wir formulieren eine dritte Seite, die seine Persönlichkeit auf den Punkt bringt, bereiten alles für seine Bewerbung als Doktorand nach seinem zweiten Masterabschluss vor und suchen nach Vertretungslehrerstellen. Er setzt alles selbstständig um, nimmt seine Zukunft in die Hand, führt Gespräche. Ein neues Foto ziert jetzt den Lebenslauf: entspannt, freundlich, natürlich. Ganz er selbst. „Vielen herzlichen Dank, liebe Frau Jacobsen. Ich bin Ihnen so dankbar. Meine Zukunft sah dunkel aus, jetzt habe ich zwei Jobs als Lehrer“, verabschiedet er sich gegen Ende des Coachings. „Meine Frau und ich würden Sie gerne zu uns einladen. Sie kocht sehr gut. Das ist unsere Kultur.“ Er bietet mir an, ihn zu duzen und erläutert mir, dass der Respekt es ihm gebietet, mich als seinen Lehrer ein Leben lang zu siezen.

In jedem Fall: Seine Schüler dürfen sich glücklich schätzen. Er wird ihnen neue Welten eröffnen, zeigen, dass Mathematik schön ist und jedes Problem lösbar.

„Die Ehrfurcht vor der Vergangenheit und die Verantwortung für die Zukunft geben fürs Leben die richtige Haltung.“ (Dietrich Bonhoeffer)