Gedanken zum Wert Außergewöhnlichkeit

Mit 18 hatte ich das Abitur in der Tasche, einen Studienplatz für Germanistik in Münster und keine Vorstellung davon, was ich werden wollte, als mir eine Bekannte meines Vaters von einem anthroposophischen Jugendseminar erzählte: „Dort verbringen junge Menschen aus unterschiedlichen Ländern ein Berufsfindungsjahr in einem Seminarhaus, in dem sie gemeinsam wohnen, Anthroposophie studieren und künstlerisch arbeiten. Wäre das nicht etwas für dich?”,  schlug sie aufmunternd vor.

Da ich die Anthroposophie bisher nur aus der umfangreichen Bibliothek meines Vaters kannte, war ich schnell Feuer und Flamme dafür, endlich mehr über die philosophischen Hintergründe zu erfahren und mich auch in anderen Künsten als der Musik, die mir schon seit frühester Kindheit vertraut war, auszuprobieren. Ich vereinbarte einen Termin und fuhr mit dem Zug nach Stuttgart. Das Seminarhaus lag auf einer Anhöhe und bot einen weiten Ausblick über die Hügel der Stadt und den leuchtend roten Abendhimmel. Eine Gruppe Jugendlicher saß vor dem Haus im Garten und unterhielt sich lebhaft. Ich schnappte einige Sätze auf und vermutete, dass sie Portugiesisch sprachen. Eine junge Dunkelhaarige in Sportkleidung und mit einer Müslischale in der Hand begrüßte mich mit einem freundlichen „Salut. Etwas abseits saß jemand in ein Buch vertieft. Ich mochte die Vorstellung, in dieses kunterbunte Sprachengewirr einzutauchen, Freundschaften zu schließen und von anderen Ländern und Mentalitäten zu erfahren.

An das Gespräch mit den beiden Seminarleitern, einer Eurythmistin und einem Sprachgestalter, entsinne ich mich kaum. Lediglich an meine Angst, sie hätten übersinnliche Fähigkeiten und könnten mir tiefer in die Seele sehen, als es mir lieb sein würde, als die Frau zu mir sagte: „Sie sind ja innerlich noch so zart. Warten Sie ein halbes Jahr und dann beginnen Sie im Januar mit dem ersten Trimester”, kann ich mich noch erinnern. Auch die Einrichtung des Hauses mit seinen Unterrichtsräumen und den Zimmern der Bewohner hinterließ in mir keinen bleibenden Eindruck.

Am Abend hatte ich die Gelegenheit, zum ersten Mal in meinem Leben eine Eurythmieaufführung im großen Saal zu sehen. Die Eurythmistin betrat die Bühne, auf der die Beleuchtung wechselte und Kleid und Schleier in tiefes Blau tauchte. Von irgendwoher rezitierte ein Sprecher ein Gedicht. Langsam, im Rhythmus der Poesie bewegte sie sich, lief wie schwebend eine Form im Raum und zeichnete mit Händen und Armen Gesten und Gebärden in die Luft, denen der zarte Schleier sanft folgte. Und ich sah, dass die Luft im Raum nicht ein Nichts war, sondern erfüllt war, erfüllt von Farbe und Klang, von Form und Gestalt und darüber hinaus noch von etwas Außergewöhnlichem: Es war, als ob der Raum sich öffnete und etwas Unsichtbares sichtbar würde. Die rhythmische Struktur des Gedichts, das ich hörte, das Gefühl des poetischen Ausdrucks in ihm und die Kraft der Sprache verbanden sich auf mir unerklärliche Weise mit dem in steter Bewegung bleibenden Körper der Eurythmistin, die Worte und Klänge in ihrem Werden aus dem Raum zu greifen schien, sie durch den Ernst ihrer Persönlichkeit hindurchfließen ließ und nach ihrer Formung an den Raum zurückgab. Ihre Gestalt war ganz Instrument im Dienste von etwas Höherem und doch zutiefst Menschlichem: der Sprache. Mir stiegen Tränen in die Augen, als der Sprecher endete und sie in stiller Würde die Bühne verließ. Für einen Moment wagte niemand den Zauber, der in der Luft lag, durch Applaus zu zerstören.

An diesem Tag wusste ich deutlicher als je zuvor, was ich bisher nur geahnt hatte: dass Sprache mehr ist als mündliche Rede oder Literatur, eingesperrt zwischen zwei Buchdeckel, dass sie eine große schöpferische Gestaltungskraft ist, Welten formt und uns bewegt, nicht von dieser Welt und doch ganz in sie gegossen, unserer Obhut anvertraut, unserer Freiheit anheim gestellt. Ich entschloss mich mit der heiligen Feierlichkeit meines jugendlichen Idealismus sie zu bitten mich auszubilden. Ich wollte Eurythmistin werden und andere von der Bühne aus so berühren, wie ich an diesem Tag berührt war von der plötzlichen Erkenntnis: „Im Anfang war das Wort.

Manche Erlebnisse verändern uns für immer, manche Menschen stehen an der Weggabelung, an der wir uns für eine Richtung entscheiden. Wer ist Ihnen in Ihrem Leben als außergewöhnlich in Erscheinung getreten und bei wem möchten Sie sich vielleicht mit einem sehr persönlichen Geschenk dafür bedanken? Erzählen Sie mir Ihre Erinnerung an diesen besonderen Menschen und schenken Sie ihm ein exklusives biografisches Porträt.