Gedanken zum Wert Abschied

Die Bereitschaft, uns von etwas oder jemandem zu verabschieden und zu lösen, wird uns vom Leben immer wieder abverlangt. Manche Abschiede fallen leichter, wenn eine Veränderung und der Beginn von etwas Neuem schon im Blick sind. Viele Abschiede sind mit Schmerz verbunden, weil wir uns von dem, was uns wertvoll und lieb geworden ist, trennen wollen oder müssen.

Abschiede vom Elternhaus und von Freundeskreisen, von Städten und Ländern, Jobs und Karrieren, von Zielen und Plänen, von Geliebten, Partnern, Kindern, Tieren, von Jugend und Gesundheit und vielem mehr durchziehen unser Leben bis zum letzten großen Abschied.

Manche können sich nicht verabschieden. Sie lassen es nicht zu oder sie haben keine Gelegenheit mehr dazu.

Als mein Vater starb, erhielt ich morgens einen Anruf von meiner Mutter, die ihn tot im Bett gefunden hatte, als sie ihn zum Frühstück holen wollte. Meine erste Reaktion: Schock und Unglauben. Er war erst 65 und ich dachte, wir hätten noch 20 Jahre Zeit, uns zu unterhalten und irgendwann allmählich voneinander zu verabschieden.

In größter Eile, als wenn ich ihn noch lebend antreffen könnte, fuhr ich nach Hause. Er lag friedlich in seinem Zimmer, umgeben von all seinen Büchern, die wie ein Panorama seiner vielfältigen Interessen waren. Von Anfang an hatte ich zwei Haltungen, zwischen denen ich innerlich hin und her gehen konnte: Wenn ich auf mich sah, war ich unendlich traurig über meinen großen Verlust, darüber, dass wir uns nie mehr sehen, hören, sprechen, umarmen könnten. Wenn ich auf ihn sah, sah ich, dass dieser Körper leer war und zerfallen würde, dass mein Vater wie plötzlich ausgestiegen und unsichtbar geworden und aus Raum und Zeit herausgetreten war. Und ich konnte akzeptieren, dass seine Biografie hier zu Ende war und sein unsterbliches Inneres in der Geistigen Welt aufgewacht ist.

Mit Liebe begleiten

Ganz spontan hatte ich fast den Eindruck, meinem Vater erklären zu müssen, was ihm passiert ist. Ich nahm eines seiner Bücher zur Hand, einen Vortragsband von Rudolf Steiner: Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Und ich setzte mich neben ihn und las ihm daraus vor.

Dieses Ritual habe ich ungefähr ein Jahr lang fortgesetzt. Jedes Wochenende habe ich mich auf die Liebe zwischen meinem Vater und mir besonnen und ihm innerlich vorgelesen, was uns auch im Leben verbunden hat.

Vielleicht ist dort in unserer Herzenssprache die tiefste Verbindung zwischen uns und unseren Verstorbenen, die Brücke von uns hier zu ihnen dort. Sicher war es für mich ein nachträglicher Abschied. Und vielleicht hat auch für meinen Vater auf der anderen Seite des Lebens etwas aufgeleuchtet, so wie für uns hier etwas aufleuchtet, wenn wir zum Sternenhimmel aufschauen.

ICH BIN NICHT ICH.

„Ich bin nicht ich.
Ich bin jener,
der an meiner Seite geht, ohne dass ich ihn erblicke,
den ich oft besuche,
und den ich oft vergesse.
Jener, der ruhig schweigt, wenn ich spreche,
der sanftmütig verzeiht, wenn ich hasse,
der umherschweift, wo ich nicht bin,
der aufrecht bleiben wird, wenn ich sterbe.”

(Juan Ramón Jiménez)

Lassen Sie uns ein Porträt über den Menschen schreiben, den Sie loslassen mussten. Bewahren Sie Ihre Erinnerung an Ihre Lieben vor dem Vergessen.