Gedanken zum Wert Bildung

Als ich mit fünf Jahren anfing mir das Lesen beizubringen, um an der geheimen Welt der Erwachsenen teilzuhaben, und endlich eingeschult wurde, übernahm meine Mutter gerade wieder eine erste Klasse. So wurde sie meine Grundschullehrerin und wir gingen jeden Morgen Hand in Hand aus dem Haus. Mein Vater fuhr mit unserem VW-Käfer ins weiter entfernt gelegene Gymnasium, wo er Englisch und Französisch bis zum Abitur unterrichtete. Mittags kamen wir alle nach Hause und aßen gemeinsam.

Die Ruhrallee führte in zwei Spuren den Berg hinauf Richtung Elisabeth-Krankenhaus und in zwei Spuren hinunter, wo sie auf die Kurfürstenstraße stieß. In der Mitte gab es einen Fußgängerweg, gesäumt von alten Bäumen, und auf beiden Seiten am Straßenrand schmale Parkstreifen. Wenn die Straßenkehrer im Herbst große Blätterhaufen zusammenfegten, hüpfte ich von Haufen zu Haufen die Allee entlang und ließ mich begeistert hineinfallen. Die Ruhrallee alleine überqueren durfte ich nicht. Immer wieder gab es Unfälle an der abschüssigen Straße. Einmal kippte dabei ein Lastwagen mit einer Ladung Apfelsinen um und ergoss seine Flut über die Allee und den Bürgersteig. Wir sammelten die Früchte, die nicht zu Mus zermalmt worden waren, in Tüten und Einkaufstaschen und pressten jeden Morgen frischen Saft aus, mit rohem Ei und Zucker verquirlt.

Unser Haus lag an der Ecke Sedanstraße, einer Spielstraße mit wenig Verkehr, direkt gegenüber der alten Synagoge, die von den herabhängenden Zweigen einer schönen großen Trauerweide halb verdeckt wurde. Auf unserem gemeinsamen Schulweg sang meine Mutter mit mir zweistimmig und ermahnte mich ab und zu „Mach nicht so große Schritte!“ oder „Pass auf, da kommt ein Auto!“ Wir liefen Richtung Steeler Straße, an der Michaelkirche und meinem alten Kindergarten vorbei, in dem ich mich so gelangweilt hatte, dass ich mich an nichts mehr aus diesen Jahren erinnern kann. Wenn wir die Brücke, die über die Schnellstraße führte, erreicht hatten, konnten wir das rote Backsteingebäude der Friedenschule schon sehen. Meine Mutter ging jeden Morgen zuerst ins Lehrerzimmer und ich setzte mich neben sie an den langen Tisch. Frau Stange, die hauptsächlich Musik unterrichtete und dabei Gitarre spielte, Frau Wagener, die Kunstlehrerin, die ich später Fritzi nennen durfte, Frau Fahlenbock und all die anderen Klassenlehrerinnen waren schon früh da und pafften noch schnell eine Morgenzigarette oder korrigierten Hefte.

Der einzige Mann und Hahn im Korb war der Rektor, der nach dem Tod des alten Herrn Koble vom Konrektor zum Schulleiter aufgestiegen war. „Witti“ wurde von den Kolleginnen nicht ganz ernst genommen, denn „Witti“ unterrichtete zwar Deutsch, brachte aber, ohne es selbst zu bemerken, in den Konferenzen immer wieder sein grammatikalisches Unvermögen zum Ausdruck, sodass die Kolleginnen sich anfangs nur bedeutungsvolle Blicke zuwarfen und die Augen verdrehten, später unverfroren mitschrieben, um die schlimmsten Knüller für irgendeine Bierzeitung zu seiner Pensionierung aufzubewahren. „Gänge das, Frau Kollegin, dass Sie mir mal die Milch reichen?“ wurde bei uns zum geflügelten Wort am Mittagstisch. „Gänge das, dass du mir mal die Möhren gibst?“ Und schon prusteten wir los. In den Lehrerkalendern meiner Mutter zwischen 1979 und 1990 sind die Rückseiten voller Notizen, die „Wittis“ kreatives Verhältnis zur deutschen Grammatik widerspiegeln. Da wurden „Geräte für hoch am klettern“ für den Schulhof angeschafft und „alles der Organisationskünste der Lehrer überlassen“. „Innerhalb von eines Tages“ konnte nicht alles geklärt werden, aber wenigstens versicherte er den Kolleginnen: „Ich stell‘ mich hinter dem Antrag der Eltern!“

Ich fühlte mich im Lehrerzimmer wohl, vielleicht habe ich deshalb keine Angst vor so genannten eingesetzten Autoritäten und akzeptiere nur Autorität kraft Persönlichkeit. Vielleicht durchschaute ich die Erwachsenen auch früh. Es war lustig und interessant, den Pausengesprächen der Lehrerinnen zuzuhören, und ich war daran gewöhnt, denn zu Hause redeten wir auch meistens über Schule. Manchmal übernahm mein Vater ehemalige Schüler meiner Mutter, über die sie sich ausführlich austauschten, erzählte aus seinem Unterricht und rezitierte Edgar Allan Poe oder Guy de Maupassant oder berichtete, dass Oliver Bierhoff vor dem Abitur abgehen würde, um Fußballprofi zu werden. Nach dem Mittagessen zog er sich zu einem Mittagsschlaf in sein Arbeitszimmer auf die Couch zurück und korrigierte anschließend Hefte oder las, um im Englischen und Französischen up to date zu bleiben.

Meinen Vater habe ich hauptsächlich lesend und rezitierend in Erinnerung. Da er nach einer Polioerkrankung in seiner Jugend nicht gut laufen konnte, lag meist ein Stapel Bücher neben seinem Lieblingssessel, die er parallel las und in Reichweite brauchte. Wenn er die dicksten Wälzer im Wohnzimmer auf dem Boden zu stapeln begann, schimpfte meine Mutter manchmal: „Dicker, jetzt räum‘ mal endlich deine Bücher weg!“ Ich half ihm gerne tragen, denn anschließend legte ich mich auf seine Couch und er las mir vor. Hermann Hesse, Gottfried Benn, Eichendorff. Weltliteratur. Toll! Meine Mutter bereitete ihren Unterricht am Küchentisch vor, ich war mit meinen Hausaufgaben schnell fertig und durfte anschließend nach draußen. Wenn es regnete, legte ich mich auf den dicken Wohnzimmerteppich und hörte Hörspiel-Schallplatten, „Das kalte Herz“ mit dem unheimlichen Holländer Michel und dem Glasmännlein oder „Rübezahl“, oder ich las bald alleine und träumte mich in die Welt von Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer, Bill Bo oder Pippi Langstrumpf. Das war Geborgenheit.

„Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten.“ (Aldous Huxley)