Gedanken zum Wert Beitrag

„Meinst du, ich schaffe das?“ „Bestimmt, alles wird noch viel besser“, versuche ich meine Mutter aufzumuntern. „Wenn du gut isst, genügend trinkst und vor allem viel übst, kannst du bald in dein kleines modernes Appartement im Seniorenstift umziehen. Selbst wenn du nicht mehr laufen kannst, ist dort alles rollstuhltauglich. Dann gehen wir auf der Dachterrasse im Rosengarten Kaffee trinken. Um wieder etwas selbstständiger zu leben, ist doch vor allem wichtig, dass du deine Arme und Hände gebrauchen kannst.“

Sie sieht mich nachdenklich an und bemüht sich eine Fluse von ihrem Hosenbein zu zupfen. Ihre Hände sind immer in Bewegung, wollen noch tätig sein, allein es fehlt ihnen an Kraft. Die Arme bis zur Brille zu heben ist schon eine Leistung. Telefonieren unmöglich. So verschwindet ihr zart gewordener Körper allmählich vor meinen Augen, zerbricht zusehends, während sie, zur Seite geneigt, dasitzt und noch an Gesundung glaubt. Ich füttere sie. „Nur Pudding“, sagt sie leise und presst die Lippen zusammen. Vielleicht erreicht sie noch Fortschritte, vielleicht gewinnt sie an Kraft. Ich schwanke jeden Tag zwischen Entsetzen über ihren offensichtlichen Verfall, Glauben an eine bessere Zukunft und geduldiger Ermutigung. Das Alter zwingt ihr ab, alles loszulassen – die vertraute Umgebung, die Selbstständigkeit, das verlässliche Zurückgreifenkönnen auf die gewohnten Dienste des eigenen Körpers, schließlich das eigene Leben. Nicht die Würde, hoffe ich, nicht das Menschsein, nicht das Ewige, Unvergängliche in ihr, glaube ich.

„Wenn du aufhörst, einen Beitrag zu leisten, beginnst du zu sterben.“ (Eleanor Roosevelt)

Wir kämpfen gemeinsam um etwas Zeit, um einen Aufschub, um letzte schöne Momente oder Jahre. Wer weiß, was bleibt? Ich erzähle ihr von meinem Leben und bitte sie um Rat. Sie fasst sich und findet in ihre alte Manier zurück, fällt ihr Urteil, scherzt mit mir – eine Erinnerung an vergangene Stärke, an Zeiten, in denen ihre Stimme klar und kräftig durchs Klassenzimmer der Friedenschule erklang, in denen wir zweistimmig singen konnten. Wenn sie damals vom Einkaufen zurückkam, rief sie bereits am Anfang der Sedanstraße laut und hoch „Kiwitt!“, unseren Geheimruf, der bedeutete: „Ich bin gleich zu Hause und ich habe euch etwas Schönes mitgebracht.“ Sie ist bescheiden, sie möchte niemandem zur Last fallen und benötigt doch so viel Hilfe. Sie schämt sich dafür. Das tut mir weh.

Was bedeuten wir anderen noch am Ende unseres Lebens, hilflos, schwach und abhängig? Welches ist unser einmaliger Platz in der Welt, den wir verlassen müssen, den nur wir in unserer Einzigartigkeit ausfüllen können, unser besonderer Beitrag zum Ganzen, erfahrbar erst, wenn die Lücke sich schmerzlich und unwiederbringlich auftut?

Wir sind da, wir schenken uns Liebe, hören einander zu. Wir sehen uns und erkennen. Wir sind ganz wir selbst. Selbst ganz. Das ist das Große, was bleibt, was wir mitnehmen als geistgewordene Seele von hier in einen anderen Bezug.