Gedanken zum Wert Dynamik

Als ich noch ein kleines Mädchen war, stand ich am Fenster und sah meiner Mutter nach, wenn sie durch die Sedanstraße an der kleinen Synagoge vorbei zu Holbeck, unserem Lebensmittelgeschäft, oder bis zur Steeler Straße in die Kepa ging. „Bringst du mir etwas mit?“, fragte ich, bevor sie die Tür hinter sich zuzog, und sie zwinkerte mir zu und lachte. Am Ende der Straße drehte sie sich um und winkte. Ich hüpfte durch den Flur ins Arbeitszimmer meines Vaters, der meist an seinem Schreibtisch Hefte korrigierte oder, wenn ich Glück hatte, auf dem Sofa lag und las. „Liest du mir etwas vor?“, bettelte ich, und er ließ sich nicht lange bitten, rückte zur Seite und nahm mich mit in die Welt der Geschichten, rezitierte die schönsten Gedichte oder taufte meine Nase, meine Finger, meinen Mund und meine Ohren mit wunderbar klingenden französischen Namen.

Wenn meine Mutter zurückkam, pfiff sie schon an der Straßenecke hoch und laut: düdidadidüduiih, mit lang gezogenem uiih! Oder rief mit kräftiger Stimme quer über die Straße eine Melodie, die nur wir beide kannten: Kiiiwitt! Ich hörte sie schon, bevor ich sie sehen konnte, rannte voller Vorfreude auf den Balkon, winkte und rief ihr zu. Sie vergaß nie, mir eine Kleinigkeit nur für mich mitzubringen, ein Stückchen Schokolade oder ein neues T-Shirt.

Später durfte ich an ihrer Hand mitgehen. „Mach nicht so große Schritte“, tadelte sie mich. Unterwegs sangen wir zweistimmig, bis wir neben Holbecks bei Metzger Multhaupt ankamen, vor dessen blutigen Auslagen ich mich ekelte. Ich war froh, wenn der Einkauf vorüber war, und machte brav einen Knicks, wenn Frau Multhaupt mir ein Stückchen Wurst zum Probieren über die Theke reichte.

Fast 50 Jahre später wohnte ich für einige Jahre im Gästezimmer der Wohnung, die meine Mutter nach dem plötzlichen Tod meines Vaters, ihrem kopflosen Umzug in die Nähe der Kasseler Verwandtschaft und ihrer Rückkehr nach Essen bezogen hatte. Wenn ich nachmittags zum Spätdienst fuhr, stand sie auf dem Balkon, goss die Pflanzen, zupfte die welken Blüten ab und winkte mir zu. „Fahr vorsichtig“, rief sie. Ich antwortete: „Du brauchst nicht auf mich zu warten, wenn du müde bist“, blickte mich um und winkte zurück. Immer zweimal. Gegen Mitternacht kehrte ich heim, lief über das Kopfsteinpflaster des kleinen Hofs hinter Café Werntges nach Hause und freute mich, wenn ich noch Licht in ihrem Wohnzimmer sah. Meine Mutter wartete in ihrem Lieblingssessel vor dem Fernseher auf meine Ankunft, auf die letzten Neuigkeiten und ein „Gute Nacht“, wenn ich sie ins Bett brachte, während ich selbst, noch aufgewühlt von den Ereignissen des Tages, nicht schlafen konnte.

Seit bald zwei Jahren braucht meine Mutter mehr Pflege, als ich ihr geben kann. Ich besuchte sie anfangs täglich, inzwischen sehen wir uns noch mehrmals in der Woche. Ich bringe ihr Schokolade, frische Himbeeren, Eierlikör oder eine neue bequeme Hose mit. Meine Wohnung ist in der Nähe der Seniorenresidenz, in der sie sich ein Zimmer eingerichtet hat: Bilder, Teppiche, Fotos, ein Lieblingssessel, ein kleiner Tisch – ein Zuhause. Jetzt singen andere mit ihr Lieder aus früheren Zeiten. Andere bringen sie früh ins Bett und decken sie zu. Dann wartet sie, das Handy in der Hand, auf meinen Anruf, die letzten Neuigkeiten und ein abschließendes „Gute Nacht. Salut. Bis morgen.“ Immer zur selben Zeit.

In der Abenddämmerung singt ein Vogel. Leise verklingt sein Lied. Der Frühling kommt.

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.“ (Rainer Maria Rilke)