Gedanken zum Wert Bindung

„Warum bist du denn so traurig?“ Anne kommt in die Küche und gibt mir das Telefon. Sie will unten eine kurze Raucherpause nehmen und dabei den Hof inspizieren. Die Kollegen vom Frühdienst sind gegangen. Es ist nicht viel los. Ich sitze mit Maili in der Küche. Maili ist trotz ihres asiatisch anmutenden Namens Afrikanerin. Ihr üppiges Dekolletee hat sie heute mit einem besonders tiefen Ausschnitt betont.

Ich starre immer noch auf das Display meines Handys und wische mir eine Träne ab. Zu ihrem 50. Geburtstag hatte ich Maike wie immer nicht telefonisch erreicht. Sie flüchtete oft in den ersten Frühjahrsurlaub, genoss die Ruhe und Zweisamkeit mit ihrem Freund. Also schrieb ich ihr eine Mail, um zu gratulieren. Die Antwort hatte ich gerade gelesen: „Liebe Heike, seit längerer Zeit finde ich bei unseren Treffen, dass wir uns nichts mehr zu sagen haben. Ich denke, unsere Freundschaft ist beendet, alles Gute, Maike.“

Sie hatte mich einfach abgehängt, wie einen Waggon auf einem toten Gleis abgestellt. „Meine Freundin aus Babyzeiten hat mir gerade aus heiterem Himmel die Freundschaft gekündigt, nach einem halben Jahrhundert, ohne Streit, einfach so“, antworte ich und schalte den Wasserkocher an, um mich mit etwas Warmem zu trösten. Anne schüttelt den Kopf. „Blöde Kuh. Unglaublich, was manche Leute sich so denken. Tut mir leid. Ich bin kurz unten.“ „Voll krass, Alter“, kommentiert Maili und beißt in ihr Nutellabrot. „Willst du nichts mehr vom Mittagessen?“, frage ich. Die Antwort kenne ich im Voraus: „Nee, Heikchen, ich brauch Nutella, damit ich meine schöne Farbe behalte“, grinst sie und leckt sich genüsslich die Finger ab. „Ich bin trotzdem nicht dein Heikchen, klar?“ „Jau.“

Auch nach unserer gemeinsamen Kleinkinderzeit auf dem Dorf, in dem unsere Großmütter lebten, blieben wir Freundinnen. Manchmal besuchten wir uns gegenseitig zu Hause bei unseren Eltern, als wir groß genug waren, alleine mit der S-Bahn in die benachbarte Stadt zu fahren. Maikes Vater hatte nur ein Bein und lief mit Krücken durchs Haus, ihre Mutter war Hausfrau. Er war mal ein hohes Tier in der Industrie und sie hatten früh gebaut, meine Eltern waren beide Lehrer und wohnten ihr Leben lang zur Miete. Als ich nach dem Abitur eine Ausbildung als Eurythmistin begann und Maike ihr Englischstudium aufnahm, verstand sie nicht, was mich bewegte. Sie fand mich reichlich abgehoben. Mir machte das nichts aus. Maike studierte in Heidelberg, ich landete für einige Jahre in Stuttgart. Wir sahen uns seltener und schrieben uns lange Briefe. Immer, wenn wir uns besuchten, war es wie früher, sofort stellte sich die alte Vertrautheit ein. Wir knüpften einfach wieder an, erzählten uns unser Leben. Freunde kamen und gingen, wurden am Rande mit wahrgenommen.

Nach ihrem Studium brauchte sie Jahre, um zu promovieren, ich nahm noch ein Universitätsstudium auf und promovierte auch, während sie sich habilitierte. Wir schafften es, ein gemeinsames Schreibcamp zu organisieren: Jeden Tag fünf Seiten schreiben, abends gemeinsam etwas Leckeres kochen und einen guten Wein dazu genießen, das war die Verabredung. Es machte großen Spaß und half tatsächlich gegen Aufschieberitis und einsame Schreibblockaden. Da wohnte sie schon mit ihrem Mann, ihrem ehemaligen Professor, in seinem Haus, ich war von meinem Ägypter bereits nach seiner Kreditflucht in Abwesenheit geschieden worden. Gut gemacht, Maike, gut verheiratet, abgesichert. Auch eine Leistung.

Als es bei mir in der Schweiz und in Luxemburg beruflich aufwärts ging, wurde sie Professorin. Jahrelang hatte ich Rücksicht genommen, wenn sie keine Zeit hatte – „… die Habil, das verstehst du bestimmt“ – jetzt konnte sie aufatmen, wurde verbeamtet. Wenn sie nicht meine älteste Freundin gewesen wäre, hätte ich sie in dieser mageren Freundschaftsphase wahrscheinlich längst aus meinem Adressbuch aussortiert. Ich hielt den Kontakt, ließ das Band zwischen uns nicht los. Mit einer Fast-Schwester bricht man nicht. Ich nicht. Ich besuchte sie in ihrem Büro in der Universität und wir sprachen über unsere Jobs. „Bei mir stimmen die Studis mit den Füßen ab, ob ich gut bin. Sonst wären meine Vorlesungen nicht so voll“, gab sie selbstbewusst an und stellte mit Entsetzen fest, dass ich genauso viel verdiente wie ein Professor. Gönnte sie mir das nicht?

Sie trennte sich von ihrem Mann, fand eine neue Liebe. Gelegentlich besuchte ich sie auf dem Weg in die Schweiz. Mit mir ging es beruflich bergab, Mobbing, Kündigung, Burnout, Selbstzweifel, die ganze Katastrophe. Sie war dauernd im Stress. Wenn wir Zeit füreinander fanden, freute ich mich immer sehr. Vielleicht war es zu selten? Mach’s gut, Maike. Blöde Nuss.

Gedankenverloren gieße ich kochendes Wasser auf meinen Tee, räume die Spülmaschine aus, stelle das saubere Geschirr in den Schrank, räume die bekleckerten Teller wieder ein. Maike hat eine geradlinige Karriere, niveauvolle Lebenspartner, denke ich. Ich habe nichts. Nur mich. Ich räume hier den Dreck der Kinder des Prekariats weg.

Die Eingangstür schlägt zu und Anne ruft in den Flur: „Bin wieder da!“, als das Telefon auf dem Küchentisch klingelt. „Bundespolizei, wir haben am Flughafen ein minderjähriges Mädchen mit gefälschten Papieren aufgegriffen und bringen sie nachher zu Ihnen. Es dauert noch etwas. Der Bericht kommt per Fax nach.“ Maili ist fertig und räumt ausnahmsweise von selbst den Tisch ab. Manchmal sind sie richtig nett, wenn es einem nicht gutgeht, denke ich. Ich schließe die Küche ab und gehe durch den langen Flur am Wohnzimmer und den Zimmern der Mädchen vorbei zurück ins Büro: „Wir bekommen eine Aufnahme, wahrscheinlich ein unbegleitetes minderjähriges Flüchtlingsmädchen. Keine Papiere.“ Anne verdreht die Augen und reibt sich in kreisförmigen Bewegungen konzentriert die Schläfe. „F… Auch das noch. Ich hab Kopfschmerzen.“ Aus dem Wohnzimmer plärrt der Fernseher.

„Wahre Freundschaft kann nur beruhen auf der Verbindung ähnlicher Naturen.“ (Ludwig van Beethoven)