Gedanken zum Wert Anstand

Welches Verhalten in welcher Situation als angemessen und anständig gilt, scheint besonders stark von Zeitgeist und Kultur abzuhängen. Manche Kulturen legen z.B. traditionell besonderen Wert darauf, das Schamgefühl des Gegenübers nicht durch unanständige Bekleidung zu verletzen.

Während meiner Ehe mit einem Ägypter machten wir gelegentlich Urlaub in seinem Heimatland. Wir verbrachten auch einige Tage am Meer und wohnten in der Wohnung seines Schwagers. Dort besuchten wir einen öffentlichen Strand. Männer und Jungen tummelten sich in ihren Badehosen genussvoll in den Wellen, während die Frauen und Mädchen ihre Kleider anbehielten, ja sogar mit ihnen baden gingen. „Habibti, du kannst dich jetzt ausziehen”, schlug mein Mann vor und blickte stolz in die Runde. „Auf gar keinen Fall werde ich mich hier im Badeanzug hinlegen”, entfuhr es mir, „und dann auch noch als blonde Frau.” Soeben war eine junge Ägypterin aus dem Wasser gestiegen. Das nasse lange Kleid klebte an ihrem Körper und zeigte ganz deutlich ihre Gestalt.

Sie hatte aus ihrer Sicht Sitte und Anstand gewahrt und wäre sicher auch im Badeanzug eine schöne Erscheinung gewesen. Das war gar nicht zu übersehen. Ich schämte mich trotzdem, als Einzige die Grenzen des gebotenen Rahmens zu überschreiten, und überredete meinen Mann, an einen Hotelstrand zu wechseln, um dort zu schwimmen.

Das Gefühl für Anstand ist so individuell, dass wir ihm nur freiwillig nachkommen können. Niemand kann seine Kultur leugnen und niemand sollte aufgeben, was er für anständig hält. Und niemand sollte dem anderen aufzwingen, was Anstand für ihn heißen soll. Wie begegnen wir uns also, ohne einander kritisch zu beäugen, gar zu erziehen oder zu dominieren zu versuchen?

Anstand entsteht aus einem Gefühl für das Richtige und Angemessene in der jeweiligen Situation. Manchmal passe ich mich freiwillig dem an, was andere in ihrem Rahmen für sittlich richtig halten, auch wenn es mir zunächst unverständlich oder übertrieben erscheint. Niemals werde ich dabei aber aufgeben, was ich selbst unter Anstand verstehe und was für mich der richtige Rahmen guten Verhaltens ist.

Anstand bedeutet nicht nur, Tradition, Kultur und Sitten zu folgen, die wir seit unserer Kindheit gelernt und verinnerlicht haben. Es geht nicht allein darum, sich möglichst in jeder Situation gut zu benehmen, anständig miteinander zu reden und gewissenhaft zu handeln, auch wenn das ein Zusammenleben sehr angenehm machen kann. Manche wollen offensichtlich im Erwachsenenalter nachholen, was ihre Eltern versäumt haben, besuchen Knigge- und Benimm-Seminare, um sich in den angestrebten Chefetagen keine Blöße zu geben.

Anstand bedeutet auch, gelegentlich von mir absehen zu können und mich mit Interesse dem ganz anderen zuwenden zu können. Anstand ist natürlicher Respekt vor den Grenzen und Bedürfnissen anderer in Übereinstimmung mit meinem Gewissen. So bringt der Wert Anstand mich in eine kontinuierliche und abgleichende innere Bewegung zwischen mir selbst und den anderen, zwischen dem, was mir in meinem Rahmen angemessen erscheint und anderen in ihren Zusammenhängen. Und vielleicht gewinnen wir aus dieser Bewegung von mir zum anderen und zu mir zurück mit der Zeit tieferes Verständnis für andere und ihre Kultur. Nur aus diesem Verständnis können wir uns wirklich schätzen und gegenseitig die Freiheit des anderen respektieren.

„Feinster Anstand und wahrhaft gute Manieren kommen vom Herzen und von einem ausgeprägten Gefühl persönlichen Wertes.”
(Honoré de Balzac)