Gedanken zum Wert Dringlichkeit

Auf der Suche nach einem Café biege ich in die kleine Seitenstraße und stelle den Wagen neben den Glascontainern ab. Mir ist so übel, dass ich nicht weiterfahren kann, mein Magen schmerzt, ich schnappe nach Luft, die Kopfschmerzen sind unerträglich. Der Geruch des Armaturenbretts ist mir zuwider. Ich öffne die Tür und steige aus. Eine ältere Dame kommt mit gesenktem Blick an mir vorbei, kurz darauf gesellt sich ein Hund zu mir und streift neugierig durch den Innenraum meines Wagens. „Passen Sie nur auf, dass er nicht im Auto bleibt“, nähert sich seine Besitzerin lächelnd. Blonder Kurzhaarschnitt, Brille, helle Jeans, wohl etwas jünger als ich, sehr nett, denke ich und frage: „Wissen Sie, ob es hier in der Nähe ein Café gibt? Mir ist so furchtbar schlecht, ich suche eine Toilette.“ Ich würde mich am liebsten auf der Stelle in den Straßengraben fallen lassen. „Schließen Sie das Auto ab und kommen Sie einfach mit zu mir“, bietet sie spontan an. Dankbar folge ich ihr, während mir die Dringlichkeit meiner Lage bewusst wird. Meine Hände kribbeln, in meinen Därmen rumort es. Wer lädt schon eine Fremde zu sich ein und riskiert, anschließend das Bad desinfizieren zu müssen? Ich bin sehr beeindruckt von so viel tatkräftiger Menschlichkeit und mir kommen die Tränen, während sie aufschließt. Was für ein Glück: Ich habe direkt neben ihrem Haus geparkt.

Konetzki steht an der Tür. Die Post quillt aus dem Briefkasten. Ein heller großer Raum mit Blick auf den Garten. „Soll ich Ihnen einen Kaffee machen? Das Gäste-WC ist direkt neben dem Eingang.“ Bloß keinen Kaffee, lehne ich dankend ab und schließe mich erleichtert ein. Ich schäme mich für den Fäulnisgeruch, der den kleinen Raum erfüllt, und muss sofort würgen. Auf dem kleinen Waschbecken steht ein Behälter mit flüssiger Sagrotanseife. Das beruhigt mich. Als ich wieder ins Wohnzimmer komme, stelle ich mich erst einmal vor. Frau Konetzki hat bereits eine Flasche Wasser und ein Glas auf den Terrassentisch gestellt. „Jetzt ruhen Sie sich ein bisschen aus. Ich bin mindestens noch eine Stunde hier. Sie stören mich überhaupt nicht.“ Sie legt ein paar Kissen auf einen Liegestuhl und holt eine Decke. Ich bin so erschöpft, dass ich ihr Angebot gerne annehme, die Schuhe ausziehe, mich zurücklehne und die Augen schließe. Der Hund streift im Garten umher, verschwindet neben mir unter den Büschen. „Socke, komm“, ruft sie ihn leise zu sich. Als ich nach kurzer Zeit Anstalten mache zu gehen, eröffnet Frau Konetzki mir, dass sie gerade telefoniert habe und heute gar nicht mehr ins Büro müsse. „Sie sind an einem Punkt, wo Sie sich hinlegen sollten.“ „Sind Sie Krankenschwester?“, frage ich. „Ich sehe das an Ihren Augen, ich habe selbst viel mit Migräne zu tun“, beharrt sie und nimmt mir die Scheu, noch etwas bei ihr zu verweilen.

Frische Luft, ein schöner Garten, ein Glas Wasser und ein Liegestuhl, vor allem aber die feinfühlige Fürsorge und tatkräftige Hilfsbereitschaft meiner Gastgeberin werden mir kurz zur Zuflucht, ich lasse los und beginne mich zu entspannen, Zeit spielt keine Rolle mehr. Als wir uns verabschieden, bitte ich sie darum, mir ihre Adresse auf einen Zettel zu notieren, damit ich mich bei ihr mit einer Karte bedanken kann. Wir tauschen Visitenkarten aus. Zu Hause angekommen, lese ich: Provinzial, die Versicherung mit dem Engelsflügel – „Für Sie da, immer nah“. Heute war Frau Konetzki für mich da, mein Engel des Tages. Ganz herzlichen Dank!

„Der Planet braucht keine erfolgreichen Menschen mehr. Der Planet braucht dringend Friedensstifter, Heiler, Erneuerer, Geschichtenerzähler und Liebende aller Arten.“ (Dalai Lama)