Gedanken zum Wert Anstrengung

Wir machen es uns nicht leicht. Wir strengen uns an. Wir verfolgen permanent irgendein Ziel. Schule, Ausbildung, Studium, Beruf, Karriere, Familie oder nicht, Besitz, Lebensstandard, Gesundheit, Schönheit, Fitness, Elan, Jugendlichkeit, Absicherung, Träume, Pläne, Ideen, Selbstständigkeit, Selbstverwirklichung – in irgendeiner Form bemühen wir uns dauernd, uns zu entwickeln, vorwärtszukommen, uns selbst zu optimieren. Wir geben unser Bestes, den perfekten Job, den richtigen Lebenspartner, das gelungene Leben ja nicht zu versäumen.

Und versäumen doch viel. Das gute Leben, den Genuss und die Muße verschieben wir auf später. Wenn wir erst mal nicht mehr arbeiten müssen, wenn die Kinder aus dem Haus sind, dann können wir alle Bücher lesen, auf Reisen gehen und es uns gutgehen lassen, uns mit den Menschen umgeben, die wir am liebsten um uns haben, oder die Ruhe des Alleinseins schätzen. Noch einmal einen Neubeginn wagen, beruflich oder privat. Dann haben wir Zeit, denken wir. Bis dahin kämpfen wir, mühen uns ab, lassen uns viel gefallen, sind hart im Nehmen.

„Leute, die darauf stolz sind, daß sie hart arbeiten, mag ich nicht. Wenn ihre Arbeit sie so hart ankommt, sollten sie sich eine andere suchen. Die Freude an unserer Arbeit ist das Zeichen, daß sie zu uns paßt.”
(André Gide)

Mein Vater war Lehrer für Englisch und Französisch. Als Kind erlebte er den Zweiten Weltkrieg und die Flucht aus seiner Heimat. Damals, als alle bei Null wieder anfingen, kümmerte sich niemand um Unterstützung, Hilfe oder Therapie. Gut, wenn man noch in der Familie einen Rückhalt fand. Er war ein fleißiger und begabter Schüler und Student. Mit 21 steckte er sich beim Baden in einem Teich mit Kinderlähmung an und kämpfte darum, wieder gehen zu können. Mit Anfang Dreißig wurde er manisch-depressiv und strengte sich sein Leben lang an, sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Und in langen Phasen gelang es ihm auch. Er war wortgewandt, wissbegierig und offen. Ein begeisternder Lehrer, vielseitig interessiert und umfassend gebildet. Ein Herzensmensch, der noch viel vorhatte, viel geben konnte. Mit 65 starb er am plötzlichen Herztod.

Alle Anstrengung ist es wert, wenn sie uns und andere bereichert, wenn sie uns hilft, nach Schicksalsschlägen wieder aufzustehen und innerlich an ihnen zu wachsen. Alle Anstrengung, die sich in kurzfristigen Eitelkeiten und Äußerlichkeiten erschöpft, ist es in meinen Augen nicht wert, darüber das Leben zu vergessen und aufzuschieben. Es muss nicht perfekt sein, um schön und liebevoll zu sein. Wir wissen nicht, wie viel Zeit wir miteinander haben. Was Glück war, bemerken wir oft erst später, wenn die Erinnerung aufsteigt. In ihr ist nichts verloren. Nur für den Dank, die Entschuldigung und die liebevolle Zuneigung gibt es kein Später, kein Aufschieben. Für unsere Wertschätzung und Herzlichkeit ist immer jetzt die richtige Zeit.