Gedanken zum Wert Dankbarkeit

„Darf ich Ihnen ein Foto von meinem Kind zeigen?“ Die junge Frau sitzt mir im Speisewagen gegenüber, wir teilen uns ein kleines Tischchen. Die vorüberziehende Landschaft versinkt in bleiernes Grau. Regentropfen ziehen lautlos lange Streifen über die Fensterscheiben. „Ja, gerne“, antworte ich und nehme noch einen Schluck Kaffee. Zwischen Heidelberg und Mannheim waren wir ins Gespräch gekommen und entwickelten schnell die Vertrautheit einer einmaligen Begegnung, die einen intensiven Einblick in das Leben eines Fremden gewährt.

Sie findet ihr Handy in der Tasche, wischt einige Male über das Display und zeigt mir das Bild. Ich bin schockiert. Warum erwartete ich ein Ultraschallbild zu sehen, ein Ungeborenes, in der Wärme und Geborgenheit ihres Körpers am Daumen nuckelnd? Sie musste ihr Kind tot zur Welt bringen. Im fünften Monat. Das hatte sie mir erzählt. Eine Nacht lang blieb sie nach der Geburt mit dem kleinen Wesen allein, zog es an, setzte ihm ein winziges Mützchen auf, verabschiedete sich und fotografierte es: ein riesiger Kopf mit großen geschlossenen Augen und noch kaum geformten menschlichen Zügen, mit dünnen Gliedmaßen, ein Mensch ohne Zukunft. „Es war so groß wie meine Hand“, sagt sie. Mir kommen die Tränen.

Sie war verzweifelt, als sie ihre Schwangerschaft bemerkte, fühlte sich zu jung für ein Kind, dachte an ihre Freiheit, nahm Medikamente. Dann wieder malte sie sich aus, wem das Kind wohl ähnlich sehen würde, träumte Namen, verwarf sie wieder und begann sich zu freuen. Es würde schon irgendwie gehen, vielleicht mit der Hilfe ihrer Eltern. Als sie schließlich bereit war, es zu wagen, sich für das Kind entschieden hatte und auf ein neues Glück hoffte, erhielt sie die schlechte Nachricht der Ärzte. „Das Kind hätte nach der Geburt mehrmals operiert werden müssen und die Zeit, sich dazwischen zu erholen, wäre zu kurz gewesen, es wäre in jedem Fall gestorben. Also habe ich mich dazu entschlossen, ihm all das zu ersparen.“ Sie streicht sich ihre schwarzen Locken aus der Stirn und nimmt ihr Handy wieder an sich, birgt ihren Schatz. „Ich bin dankbar, dass ich diese kurze Zeit mit meinem Kind hatte. Es hätte seinem Vater ähnlich gesehen.“

Wie tapfer sie ist, denke ich und lächle. Wir hängen unseren Gedanken nach und schweigen eine Weile. Die Regenwolken sind vorübergezogen, der Himmel klart auf. Ein schöner Tag.

„Im Leben der meisten von uns gibt es Zeiten, in denen wir alles dafür geben würden, so zu sein, wie wir gestern waren, obwohl dieses Gestern ungewürdigt und ohne dass wir es genossen haben an uns vorbeigezogen ist.“ (William E. H. Lecky)