Gedanken zum Wert Ausgeglichenheit

 

Wo kommt Ihr denn her?, fragte mein Vater. „Draußen ist doch alles kaputt, Busse und Bahnen fahren schon lange nicht mehr. Er saß in der Ecke seines kleinen Zimmers am Fenster, die Schultern vorgebeugt, den Kopf gesenkt. Das schöne Wetter und die ersten Krokusse, die sich zwischen den Ritzen der Pflastersteine der Sonne entgegenreckten, nahm er gar nicht wahr. Ich war vielleicht zehn Jahre alt. Meine Mutter und ich besuchten meinen Vater jeden Tag nach der Schule in der Psychiatrie. Sein Blick war leer, die Stimmung lähmend: Depression. Wir mussten aufpassen, dass das Grau in ihm nicht auf uns überging. Eine Belastung für uns alle, die noch in der Erinnerung schwer wiegt.

Ganz anders waren die Zeiten, die damit begannen, dass mein Vater plötzlich nicht mehr schlafen konnte. Nachts stand er auf, kochte sich warmes Bier, fing an zu lesen. Nichts half. Sein schneller Geist lief auf Hochtouren. Den Unterricht machte er mit links, mit schauspielerischem Talent unterhielt er die ganze Klasse, rezitierte Edgar Allan Poe oder Rimbaud, schlug alle in seinen Bann.

Er verausgabte sich und fühlte sich großartig dabei. Keine Spur von Krankheitseinsicht, stattdessen Euphorie, Rastlosigkeit, brillante Intelligenz: Manie. Für mich als Kind waren diese Phasen beeindruckend, abenteuerlich, nie langweilig. Nur traurig machte mich, dass seine Augen vor Begeisterung kühl glitzerten, mich nicht wirklich zu sehen schienen. Wir waren Statisten in seinem Theater. Bis wir ihn wieder in der Psychiatrie besuchten, er durch Medikamente in ein künstliches Gleichgewicht fand und Gespräche mit seinem Professor Engelmeier führen konnte. „Sind Sie mehr Engel oder Meier?, fragte er ihn einmal und klopfte ihm dabei kameradschaftlich auf die Schulter. Sie lachten fröhlich.

„Nur ein Mensch von höchster und glücklichster geistiger Ausgeglichenheit versteht es, auf eine Weise fröhlich zu sein, die ansteckend wirkt, das heißt unwiderstehlich und gutmütig. (Fjodor M. Dostojewski)

Die Krankheit meines Vaters war damals kein Tabu für uns. Lange Phasen von Gleichgewicht und in der Waage gehaltener Stimmung schenkten uns den Ausgleich zwischen Depression und Manie. In diesen Phasen war mein Vater ein begeisterter Englisch- und Französischlehrer, Mitbegründer einer Amateursternwarte, Anthroposoph, belesen, begabt und gebildet. Aber vor allem war er ein sonniger Herzensmensch, wirklich an anderen interessiert. Ein verständnisvoller Zuhörer, interessanter und vielseitiger Gesprächspartner und liebevoller Vater. Er konnte sich nach einem Streit als Erster entschuldigen, er trug sein Herz manchmal auf der Zunge und er war fundiert in allem, was er tat und wofür er sich interessierte. Aus dem Herzen zu sprechen, sich anderen aufmerksam und liebevoll zuzuwenden und voller Ehrfurcht auf die Schönheit der Welt und des Himmels zu sehen, das war es, was ihm Ausgeglichenheit zwischen den Extremen verliehen hat. Das war es, womit er mir besonders in Erinnerung bleibt.

Was die Bühne unseres Lebens uns an Höhen und Tiefen zumutet und abverlangt, wissen wir nicht. Entscheidend ist, dass wir mutig durch unser Stück hindurchgehen, dass wir immer wieder die Regie zurückzuerobern versuchen und es wagen, den anderen, die in unserem Leben eine Rolle spielen, wirklich herzlich zu begegnen, uns auszusprechen und ehrlich zu zeigen. Das berührt. Das bleibt.