Gedanken zum Wert Barmherzigkeit

Der kleine Platz am alten Rathaus in Werden ist im Sommer ein beliebter Treffpunkt, obwohl er wie eine Verkehrsinsel zwischen zwei belebten Straßen liegt, die bergauf an der Abteikirche vorbei nach Velbert und bergab in die Innenstadt führen.

Gegenüber dem Rathaus grenzt an einen kleinen Kinderbuchladen eine italienische Eisdiele, vor der sich an heißen Tagen eine lange Schlange bildet. Die Glücklichen, die mit ihrer Eistüte einen Platz auf einer der hölzernen Bänke im Rondell neben dem Buchladen ergattern können, lassen sich gerne dort im Schatten der großen Eiche nieder.

Eine Bank war immer besetzt. Unter ihrem Sitz stapelten sich Taschen und Plastiktüten, daneben lag zusammengerollt ein Schlafsack im Dreck und ein in krakeliger Schrift gemaltes Pappschild vor einem Becher mit einigen Münzen zeigte Vorübergehenden an: „Hier wohnt Hanno.” Hanno war groß, blond, breitschultrig und grüßte jeden freundlich. Wenn es dunkel wurde, breitete er seinen Schlafsack aus und zog sich die Kapuze bis über die Augen. Der Lärm der vorüberfahrenden Autos und der helle Schein der Leuchtreklamen und Straßenlaternen schienen ihn nicht zu stören.

Zuletzt sah ich Hanno zur Karnevalszeit. Während das Prinzenpaar vom Balkon des Rathauses aus winkte und Bonbons, Konfetti und Luftschlangen in die Menge und auf die bunten Wagen des Rosenmontagszugs warf, ging mitten im Trubel immer wieder ein kleines Kind an der Hand der Eltern zu Hanno und schenkte ihm eine Blume, während die Erwachsenen ein paar freundliche Worte miteinander wechselten. Bald war Hannos Bank mit einem Strauß Blumen geschmückt. Er sah zufrieden aus. Am nächsten Tag war sein Platz verwaist. Er war weitergezogen.

In den Werdener Nachrichten las ich kurz darauf, dass ein Obdachloser sein ganzes Geld, jede Münze, die im Laufe der Zeit in seinem Becher gelandet war, gespart und dem Kindergarten gespendet hatte. „Ich brauche das nicht. Ich habe alles, was ich brauche”, war sein Kommentar. Jeder kann barmherzig sein. Jeder hat etwas zu geben. Alles Gute, Hanno.

„Also ist derjenige erst wahrhaft barmherzig, der aus Nächstenliebe danach strebt, leicht und spontan auf Grund seines guten Willens das Elend der anderen mit allen Mitteln zu beseitigen, die ihm zu Gebote stehen.”

(Friedrich Wilhelm Nietzsche)