Gedanken zum Wert Aussehen

Mein großer gläserner Schreibtisch steht ganz nah am Fenster. Von hier aus fällt mein Blick auf die Häuser der Altstadt. Genau gegenüber ein Eiscafé, das noch geschlossen hat. Linker Hand der ruhige Italiener und unter mir das Café, dessen schmiedeeisernes Wahrzeichen, der große Lebkuchenmann, links neben meinem Fenster an der Hauswand befestigt ist. Bei stürmischem Wetter schaukelt er leise quietschend in seinem eisernen Gestell, immer denselben mürrischen Zug um die Lippen. Bald werden die Cafés wieder jeden Morgen Stühle und Tische übers Kopfsteinpflaster ziehen und die ersten sonnenhungrigen Gäste mit Wolldecken über den Stuhllehnen zum Verweilen einladen.

Auf der anderen Straßenseite grenzt an das musische Gymnasium ein kleines Schwimmbad, in dessen Obergeschoss sich heute eine Turngruppe mit großen Bällen in den Händen rhythmisch auf und ab bewegt. Eine junge Frau öffnet ein Fenster, eine andere wiegt ein Baby auf dem Arm. Die Bäume, deren Wipfel jetzt noch kahl hinter dem Flachdach hervorragen, gehören bereits zum Ruhrufer. Hier beginnt mein Spazierweg zum See. Wenn ich nicht über das Stauwehr auf die andere Seite des Sees wechsle, bleibe ich im angenehm kühlen Schatten der alten Bäume und habe freie Sicht auf die imposante Villa gegenüber und die darunterliegende Regattastrecke.

Ich gehe oft denselben Weg, am Fahrradverleih vorbei bis zum Gartenrestaurant und zurück. Mit weit ausgreifenden Schritten und in zügigem Tempo bin ich etwa eine Stunde unterwegs. Manchmal begegne ich dem Schauspieler und wir grüßen uns, oft sehe ich Paare, innig ins Gespräch vertieft oder schweigend hinter dem Kinderwagen. Ein alter Herr kommt mir auf seinem Fahrrad entgegen, hinter dem Lenkrad plärrt Musik aus einem Kofferradio. Sein schlecht sitzendes Toupet fällt in langen grauen Wellen bis hinter die Ohren, den Haaransatz hat der Fahrtwind zu einem kurzen Pony verweht, der ihm einen erstaunten Gesichtsausdruck verleiht. Zwei junge Mädchen auf Rollschuhen überholen ihn. Er dreht die Musik lauter und zieht sein Toupet wie eine Mütze zurecht.

Der See sieht jeden Tag anders aus, sanft wiegen sich die Zweige der Bäume darin. Am Ufer putzen zwei Enten ausgiebig ihr Gefieder und stören sich nicht an einem Angler, der sich auf einem Klappstuhl niedergelassen hat und seine Kapuze tief ins Gesicht zieht. Dunkle Wolken ziehen über den Himmel und färben den See schmutziggrau. Das Wasser schwappt leise ans Ufer, ein einsamer Ruderer zieht vorbei. Bald wird es regnen. Ein Flugzeug setzt zum Landeanflug Richtung Düsseldorf an, der Angler blickt ihm lange nach und schaut dann wieder konzentriert auf seine Angelrute, die still im Wasser ruht. Einen Ausschnitt der Welt immer wieder zu beobachten, wechselnde Stimmungen wahrzunehmen, die Luft zu riechen, Licht, Farbe und Beschaffenheit der Dinge zu sehen und genau hinzuhören, das hat für mich zuweilen einen besonderen Wert. Ich öffne mich der Welt. Sie ist immer schön. Durch sie komme ich zu mir.

„Je mehr du in dir selbst zum Einklang bist gekommen,
Je mehr wird er von dir auch außenher vernommen. (Friedrich Rückert)