Gedanken zum Wert Andenken

Als Kinder mussten meine Eltern am Ende des Zweiten Weltkriegs die Flucht aus Pommern und Schlesien erleben, Hunderte von Kilometern zu Fuß durch hohen Schnee gehen, das Dröhnen der Panzer und die Angst im Nacken. „Liebe Soldaten, Ihr dürft in der Wohnung alles benutzen, aber macht bitte nichts kaputt”, schrieb meine Mutter mit 12 Jahren in einem Brief, den sie im Glauben, bald in die Heimat zurückzukehren, auf dem Tisch der guten Stube hinterließ. Der Schnee lag so hoch, dass er von oben wieder in die Stiefelschäfte quoll, manchmal konnten sie sich einem Treck mit Bauernwagen anschließen. So ließen sie in sechs Wochen Fußmarsch bei Eiseskälte 450 Kilometer und die verlorene Heimat hinter sich.

Mein Vater floh neunjährig mit seinen Eltern und der kleinen Schwester ausgerechnet nach Dresden, wo sie sich in Sicherheit glaubten und in den schwersten Luftangriff des Zweiten Weltkriegs gerieten. Hunderttausende von Sprengbomben, Brand- und Flächenbomben machten die mit schlesischen Flüchtlingen überfüllte Stadt dem Erdboden gleich. Mein Vater blieb von Kindheit an schwerhörig. Er sprach nie darüber. Ein Glück, die Verwandten wiederzufinden, ein bescheidenes Leben aufzubauen und studieren zu können.

„Denke nicht so oft an das, was dir fehlt, sondern an das, was du hast.”
(Marc Aurel)

Meine Eltern studierten beide auf Lehramt, lernten sich in den Fünfzigerjahren während eines Auslandssemesters in Frankreich kennen und verliebten sich in den langen Nächten, in denen sie sich gegenseitig nach Hause brachten und wieder abholten. „Quelqu’un vous attend en bas”, rief die Concierge dann, denn Besuche auf dem Zimmer waren streng verboten. Beinahe hätten sie sich am Anfang ihrer jungen Liebe wieder getrennt, als mein Vater sich beim Baden im See mit Kinderlähmung ansteckte, aber das ist eine andere Geschichte …

„In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs” (Gottfried Benn), aber in meinem Elternhaus gab es Musik, Poesie, Sprachen, Liebe, Humor, Zuverlässigkeit, Geborgenheit und Unsicherheit, Abenteuer, Überfürsorglichkeit und Freiheit, Nähe und Wärme, Streit und Versöhnung, großartige Ideen, Krankheit und Lebenskraft, Sterngucker, Bücherwürmer, Wortliebhaber und schöne Reisen, Zusammenhalt und fortwährende Unterstützung. Bis heute. Ich bin dankbar für alles.

Welche Erinnerungen und Gedanken an Vergangenes möchten Sie bewahren?