Gedanken zum Wert Aktualität

Ist es für Sie ein Wert, „up to date” zu sein? Sind Sie immer auf dem Laufenden über neuste Trends und aktuelle Nachrichten?

Ich nicht. Ehrlich gesagt konnte ich noch nie ganz nachvollziehen, warum in meinem Elternhaus das tägliche Ritual der Abendnachrichten so hochgehalten wurde. Warum ich Schreckensmeldungen aus aller Welt zur Kenntnis nehmen sollte, auf deren Ursprung ich überhaupt keinen Einfluss nehmen kann, oder Interviews mit Politikern, die oft nur darin bestehen, statt eines substanziellen Inhalts eine Diskreditierung so genannter politischer Gegner zu liefern und die Fassade aufrechtzuerhalten.
Auch eine Tageszeitung lese ich nicht und habe nicht den Eindruck, deshalb uninformiert oder gar weltfremd zu sein.

Zur Generation, die mit Twitter und Facebook aufgewachsen ist und jede Befindlichkeit dort der ganzen Welt mitteilen möchte, gehöre ich ebenfalls nicht, was nicht bedeutet, dass ich die Annehmlichkeiten des Internets nicht zu schätzen wüsste.

Aktualität bedeutet für mich möglicherweise etwas anderes.
Kennen Sie das Gefühl, immer auf ein Ziel hin zu leben? Wenn ich das Studium beendet habe, der Umzug bewältigt ist, ich endlich abgenommen habe, die Kinder aus dem Haus sind, wenn ich pensioniert bin, dann… Dann wird das Leben glücklicher, schöner, erfüllter? Dann mache ich endlich einen Tangokurs und lese alle Bücher, die mich interessieren. Dann treffe ich die Freunde wieder, die jetzt wenig Zeit haben und auch so beschäftigt sind. Dann beginnt das Wesentliche?

Natürlich sind Neuanfänge schön, belebend und herausfordernd. Aber nur darauf hin zu leben, was die Zukunft an Verbesserung bereithält, lässt das schale Gefühl zurück, in der Gegenwart nicht wirklich anwesend zu sein. Eine Wirklichkeit zu verpassen, deren Reichtum verschlossen bleibt.

Vergegenwärtigung

„Das größte Hindernis des Lebens ist die Erwartung, die sich auf den nächsten Tag richtet. Du verlierst dadurch das Heute.”
(Seneca)

Aktualität bedeutet für mich, immer gegenwärtiger zu werden, das Jetzt zu ergreifen, bevor es sich verflüchtigen kann. Schreiben hilft, Musik machen. Jede Form von künstlerischem Tun verlangt Präsenz. Sport ebenso. Ruhe ist nötig. Und vor allem eins: Aufmerksamkeit.

Die Wahrnehmung, die ich jetzt habe, ob ich hungrig bin oder ängstlich. Wie bitter der Tee schmeckt und wie süß ein Apfel sein kann. Wie meine Füße den Boden berühren und mein Atem stockt oder ruhig fließt. Ich kann aufmerksam verfolgen, was mir meine Sinne mitteilen. Früher nannte man das vielleicht das Leben genießen, heute müssen Therapeuten uns daran erinnern, Achtsamkeit zu üben.
Was hören Sie im Moment, in dem Sie diesen Satz lesen? Drinnen oder draußen?

Was hilft Ihnen, langsamer, aufmerksamer und wacher für die vergängliche Schönheit des Augenblicks zu werden?